Es ist November. Relativ kalt, meistens grau und es wird sehr früh dunkel.

Wir Lehrer*innen sitzen am Abend in einem der Jugendherbergszimmer, hören Musik und diskutieren darüber, wozu der Mensch fähig ist und was es eigentlich bedeutet, “menschlich” zu sein. Es geht um historische Perspektiven und politische Debatten. Es ist eine religiöse, eine evolutionäre und eine psychologische Frage. Wir streifen emotionale Erfahrungen und teilen pädagogische Vorstellungen, erzählen uns familiäre Erlebnisse und berufliche Anekdoten. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Menschlichkeit finden wir nicht. Der Mensch ist zu vielem fähig: zu Gutem genauso wie zu Abscheulichem, zu Grausamkeiten, aber auch zu liebevollen Begegnungen, Hilfe, Verständnis und Solidarität. Und der Mensch ist zu all dem auch gleichzeitig fähig. Und das alles ist sehr “menschlich”.

21. November 2023. Die Evangelische Schule Neukölln feiert heute im Berliner Dom ihr 75-jähriges Bestehen. Mit einem großen christlichen Festgottesdienst soll der Gründung und der Entwicklung der Schule gedacht werden. Ich bekomme den Sitzplan zugeschickt, allerdings werden wir nicht dabei sein können. Denn wir, die Klassen 10c und 10d, sind im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück auf der sogenannten Gedenkstättenfahrt. Ravensbrück ist ein Lager, in dem vorrangig Frauen eingesperrt waren, zu pausenloser und härtester Arbeit gezwungen, in erbärmlichsten Verhältnissen eingepfercht, hungernd, frierend, ängstlich, durstig, verzweifelt, schwitzend, um ihr Überleben kämpfend. Jeden Tag. In den Häusern lebten die Wärterinnen.

Auf der einen Seite Frauen, die litten und starben, auf der anderen Seite Frauen, die das Leid überwachten und den Tod befahlen. Alle diese Frauen waren gleichzeitig auch Töchter und vielleicht Schwestern, manche waren Mütter oder Tanten, Großmütter oder Schwägerinnen. Manche waren verliebt, andere womöglich verheiratet, manche mochten es sehr, zu kochen, sich zu schminken oder zu tanzen, andere sangen in einem Chor oder waren begabte Zeichnerinnen, einige liebten ihre Haustiere über alles oder pflegten ihren Garten mit Hingabe. Alle diese Frauen waren sehr “menschliche” Menschen.

Heute – mehr als 75 Jahre später – übernachten, essen und arbeiten wir in den Häusern der Aufseherinnen. In den angrenzenden See wurde die Asche der Umgekommenen entsorgt. Heute morgen stehe ich an dem See und lese, dass man dort bis heute nicht badet. Die Baracken der Inhaftierten stehen nicht mehr. Stattdessen sehen wir schwarze Kieselsteine und vereinzelte Tafeln im Boden, die aufklären wollen, was dort einmal gestanden hat, wer hier einmal gelebt hat, wie viele Menschen hier einmal ermordet wurden. Vor 83, vor 80, vor 78 und vor 75 Jahren.

Wenn man sich hier aufhält, fragt man sich unweigerlich: Wie sind Menschen zu so “UnMenschlichem” fähig? Warum wurden so viele Menschen von Menschen umgebracht?

… weil sie nicht den nationalsozialistischen Vorstellungen wertvollen Lebens entsprachen? … weil sie im falschen Jahrhundert am falschen Ort gelebt haben? … weil sie homosexuell, gegen Krieg und Waffengewalt, sozialistisch, behindert oder jüdisch waren?

21. November 2023. Vor sechs Wochen hat die Hamas Israel angegriffen. Ein terroristischer Akt, dem ein mindestens 76 Jahre dauernder Konflikt vorausgeht. Ein Konflikt, der unzählige Leben gekostet hat, der aus Kriegen, Terroranschlägen, Unterdrückungen, Versöhnungsversuchen und Gesprächen, Einmischungen und Vermittlungen, vor allem aber aus Hass, Missgunst, Ideologie, Angst, Ausgrenzung, Wut und Gewalt besteht. In diesen letzten Wochen wurde dieser Konflikt auch in Deutschland ausgetragen: Demonstrationen für Palästina – Flaggen, Parolen und Reden – eine Demonstration für Israel – Flaggen, Parolen und Mahnungen – Demonstrationen, die verboten werden – zerrissene Flaggen, Parolen und viel angestaute Aggression…

Die wohl bekannteste Mahnung in Deutschland ist das apodiktische “Nie wieder!”. Nie wieder Pogrome, nie wieder Judenhass, nie wieder systematische Verfolgung von Menschen, nie wieder Antisemitismus, Rassismus, Diskrimierung, nationalsozialistisches Gedankengut. Nie wieder Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald oder Ravensbrück.

Und doch: Da stehen wir heute, 75, 78, 80 und 83 Jahre später und müssen ehrlicher Weise gestehen, dass es schon wieder passiert: Schon wieder haben Jüdinnen und Juden Angst in Deutschland. Schon wieder werden Hakenkreuze an Wände geschmiert und antisemitische Parolen gebrüllt. Schon wieder wird in Berlin eine Synagoge attackiert. Schon wieder Antisemitismus. Schon wieder Hass, Gewalt, Diskriminierung und Hetze von Menschen gegen Menschen.

Schon wieder und immer wieder sind Menschen zu “UnMenschlichkeit” fähig und bereit. Schon wieder und leider immer wieder spielt es scheinbar eine Rolle, ob ein Mensch Jude oder Muslim, deutsch, griechisch, türkisch oder russisch ist, ob jemand homo- oder transsexuell, männlich, weiblich, körperlich beeinträchtigt, dunkelhäutig oder rothaarig ist. Immer wieder leiten Menschen aus Religionen, Herkunft, Sprache, Aussehen, Sexualität, Geschlecht oder Hautfarben ab, welchen Wert ein Mensch hat. Immer wieder geben Menschen sich selbst das Recht, andere Menschen pauschal für besser oder schlechter zu erklären. Immer wieder, schon wieder. Dabei hatten wir Deutschen doch gesagt: “Nie wieder!”

21. November 2023. Heute sind wir hier, um der Vergangenheit zu gedenken, um uns selbst zu ermahnen und vor allem, um uns immer wieder daran zu erinnern, wozu Menschen fähig sind. Neulich habe ich einen Juden sagen hören, er wünsche sich momentan nichts mehr, als von seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern umarmt zu werden, weil er sich sehr einsam fühle. Er fügte dann noch hinzu, dass Mitgefühl für ihn bedeute, das Leid von Menschen zu verstehen und es aufheben zu wollen. Mitfühlen meint eben, Leid wegnehmen zu wollen, ohne Bedingungen, ohne Gegenleistung, ohne Aber. Und auch dazu sind Menschen fähig.

Während wir vier Kolleg*innen in Ravensbrück in jenem Jugendherbergszimmer sitzen und erzählen, fällt mir auf, dass auch unsere Gespräche immer wieder darum kreisen, wie “menschlich” Schule eigentlich ist. Wie gehen wir mit unseren Schülerinnen und Schülern um und wie die Schülerinnen und Schüler untereinander? Wie verhalten wir Kolleginnen und Kollegen uns miteinander und was können wir anders, vielleicht besser, “menschlicher” machen?

Wir gedenken und mahnen und erinnern uns, um Mitgefühl zu üben. Um zu lernen, Menschen als Menschen zu sehen, ganz gleich, was diese Menschen sonst noch alles ausmacht. Und so selbstverständlich das klingt: Das ist nicht immer einfach, weil wir eben alle nur Menschen sind. Mitgefühl braucht Übung, Erinnerung und Mahnung und dann – morgen feiern die Protestanten den Buß- und Bettag – braucht es auch manchmal sehr viel Vergebung. Und ganz gleich wie gebildet, klug oder alt wir sind, im “Menschsein” werden wir niemals Experten, Meister oder Profis. Wir lernen es. Immer wieder. Schon wieder. Besonders in diesem November.

Und während ich das schreibe, scheint die Sonne über dem See bei Ravensbrück. Im November 2023.

Text/Fotos: Leonie Ratschow/Andrea Pemp